Erinnerung, sprich

Rede von Christa Zeller anlässlich der Vernissage von Susi Staub Ernst in der Galerie Kapfsteig 31 Zürich am 8. November 2007

Ich bin keine Kunsthistorikerin, werde also keine genialen Querverbindungen, Anlehnungen, Bezüge, Richtlinien, Spurensicherungen zum Besten geben, wie sie solche Leute jeweils auszumachen pflegen. Ich habe mir an solchen Texten schon des Öfteren die Zähne ausgebissen, als ich sie aus einer Fremdsprache ins Deutsche übersetzen musste.

Eine Werkanalyse haben Sie folglich von mir nicht zu erwarten. Was ich heute Abend von mir gebe, ist eine assoziative Reihe von Reminiszenzen und Eindrücken, die sich durch die Begegnung mit Susi und ihren Bildern in mir angesammelt haben. Und zwar unter dem Titel eines meiner Lieblingsbücher, nämlich Vladimir Nabokovs autobiografischem Werk «Erinnerung, sprich». Die Idee zu diesem Motto kam mir übrigens, während Susis Ausstellungseinladung noch ungeöffnet auf meinem Schreibtisch lag. Als ich den Umschlag aufmachte, sah ich, dass Susis Ausstellung «Fluss der Erinnerung» heisst. Dieser Vorfall ist typisch für die Freundschaft zwischen Susi und mir. Es gibt Rhizome, die uns verbinden.

Das Erste, was ich vor rund zehn Jahren von Susi gesehen habe, war ein dreieinhalb Meter langes Papier, das bei jemandem an der Wand hing, mit hellen Strichfiguren auf einem schwarzen Grund, eine gewaltige Menge gesichtsloser Figürchen, von denen man nicht wusste, ob sie auf einen zukommen oder vor einem davonlaufen. Monate später - im Februar 1997 - stand anlässlich einer Einladung bei Freunden Susi in Person vor mir: ein helles Gesicht auf schwarzem Haargrund. Und sie ist keineswegs vor mir davongelaufen, sondern eindeutig auf mich zu gekommen, mit jener für sie so charakteristischen Neugierde, die sie allen und allem um sich her entgegenbringt. Ich wiederum betrachtete sie, wie man ein Bild anschaut: ihre schalkhaften Augen, über dem einen eine Hautfalte, die wie ein Hütchen schief darauf sass, die kleine Lücke zwischen ihren Schneidezähnen, die vielen Grübchen, die sich bildeten, wenn sie beim Reden die Mundwinkel nach unten zog, ihre Hand, die das Haar aus der Stirne strich...

Meine Staubsche Bildersammlung nahm ihren Anfang mit zwei Zeichnungen, die ich bei meinem ersten Besuch in Susis Wohnung auswählen durfte. Es gab immer wieder Zeiten, in denen Susi nicht malen konnte. Aus einem rein äusseren Grund, weil sie gerade kein Atelier besass, zumeist aber weil es - wie sie sagt - einfach nicht ging. In solchen Zeiten zeichnete sie viel, zeichnete jeden Tag. Oder, wenn sie eins hatte, ging sie ins Atelier, ordnete Tuben und Pinsel, grundierte Leinwände oder sass einfach nur da und wartete. Das ist es unter anderem, was mich an Susi immer wieder von Neuem fasziniert: ihre Geduld, ihr Durchhaltewille, ihre Hingabe an die Kunst. Sie konnte das Malen nie erzwingen. Nur aus der Freiheit heraus, nicht müssen zu dürfen, entsteht etwas bei ihr.

Sie sagte einmal, dass es doch eigentlich so wenig brauche, um auf eine Idee zu kommen, denn man habe ja schon gelebt und es sei alles schon da. Aber manchmal fehle dann eben noch etwas ganz Wesentliches, nämlich ein auslösendes Moment.

Meist hat dann ein - in unseren Augen - geringfügiges Ereignis dazu geführt, dass es mit dem Malen wieder klappte. So begegnete sie in einer solchen Phase zum Beispiel im Tram einem freundlichen Mann, der ein Jeanshemd in einem besonderen Blau anhatte. Unverzüglich ging Susi ins Atelier und begann zu malen. Einmal lag sie auf dem Bett und hörte Radio, als der Hinschied von Max Frisch gemeldet wurde. «So ist es jetzt an uns zu handeln!» schoss es Susi durch den Kopf; sie stand auf und machte sich an die Arbeit.

Ein andermal schenkte ich ihr zum Geburtstag einen grossen Strauss Tulpen, von denen jede eine andere Farbe hatte. Der Strauss löste in Susi einen wahren Malsturm aus. Und je mehr die Blumen ihrem Verfall entgegengingen, umso wilder und abstrakter wurden Susis Bilder. Später liess sie mich wissen, dass dieser Strauss für sie sehr wichtig gewesen sei, er habe sie «in die Realität geführt». Das heisst, es sei das erste Mal gewesen, dass sie ein Bild nicht aus der Fantasie heraus produziert, sondern nach einem real existierenden Objekt gemalt habe. Ein nächster Schritt in diese Richtung wäre konsequenterweise, wenn sie Porträts malen könnte, ein Wunsch, den sie schon seit Längerem hegt.

Susi hat meist Serien von Bildern zu einem Thema gemalt, Themen wie die bereits erwähnten Strichfiguren (sie nannte sie Figurenreihen), Frauen (Königinnen, Prinzessinnen, Ikonen, Dominae), Möbelstücke (Stühle, Sofas, gedeckte Tische, Kommoden), Pflanzenmotive, Gorillas und immer wieder Räume, Interieurs, geschlossene Räume, Schattenräume, unbewohnbare Städte (Der äussere Auslöser zu diesem Thema war ein Swimmingpool, an einem Ort, wo wir zusammen in den Ferien weilten, ein ganz besonderer Pool, der nur zu einem geringen Teil in die Erde versenkt war und wie ein riesenhafter Trog auf dem Boden stand. Das Wasser war allerdings so verschlammt, dass wir darin nicht schwimmen konnten!)

Mein schönstes Gemälde aus Susis Hand ist eine Domina, ein Bild, das mit seinem Zitronengelb und Zyklamenrot etwas Frühlingshaft-Hochzeitliches an sich hat. Der haarlose Schädel der Domina ist durch den oberen Bildrand angeschnitten, so als hätte das Frauenbrustbild vor schierer Dominanz auf der doch immerhin 1 m 15 hohen Leinwand nicht wirklich Platz gehabt. Breite, männliche Schultern, die Andeutung eines verspielt frivolen Spitzenmieders, rot geschminkte Lippen mit verschmiertem Rouge, Umwerfend! Dazu eine Anekdote, die zeigt, wie unterschiedlich Menschen je nach Herkunft und Hintergrund ein Kunstwerk betrachten. Meine portugiesische Putzfrau blieb einmal gedankenvoll vor dem Bild stehen, zeigte schliesslich mit dem Finger darauf und fragte dann: «Das, Meister Proper?»

Schon anlässlich der für mich ersten Ausstellung von Susis Werken fiel mir auf, dass sie ihren Bildern zum Teil ganz ungewöhnliche, seltsam poetisch anmutende Titel gibt, ohne dass sie unbedingt poetisch besetzte Wörter verwendet. Zum Beispiel «Laut und Gelächter», «Vorübung zum Tanz», «Travertine Stalaktiten» oder einfach «Their Pool». Ein Bekannter von Susi hatte einst die Idee, ihren Namen in «Susan Dust» zu übersetzen. Dieser Name hat für mich eine ähnliche Qualität wie ihre Bildertitel. Das englische «dust» bezeichnet nämlich nicht einfach nur profanen Staub, sondern kann in einem bestimmten Zusammenhang - ohne Zusatz - zum Beispiel auch «Goldstaub» oder «Blütenstaub» bedeuten....

Irgendwann erfuhr ich dann von Susi, dass sie seit langem auch schreibt. Einer ihrer Texte - mit dem Titel «Träges Spiel» - wurde vom Literaturhaus im August 2003 zum «Text des Monats» gekürt, und sie las daraus vor. Es gab darin einen Satz, der da lautete: «Es regnete zart wie Haarspray.» Auch hier gewinnt ein an sich profaner Begriff durch den Zusammenhang, in dem er aufscheint, eine lyrische Färbung. Ungeplant wirken auch diese Texte, sind absichtslos wie Susis Bilder, die ja gleichermassen etwas Lyrisches an sich haben können. Und hier wie dort kommt alles unerzwungen wie von selbst.

Susi sagte einmal, wenn sie male, handle sie, ohne zu denken. Darum ist das, was dabei herauskommt, für mich so faszinierend. Mein Lieblingsschriftsteller Nabokov hat einmal geschrieben: «In der Natur entdeckte ich die zweckfreien Wonnen, die ich in der Kunst suchte.» Jene existieren auch für mich in der Natur - und ich finde sie ebenso in Susis Bildern.


© Christa Zeller