Ein Capriccio über die Kunst und ihr Taugen.

Rede von Peter K. Wehrli zur Ausstellungseröffnung von Susi Staub Ernst in der Galerie Wengihof Zürich am 11. November 2005

Während der Vorbereitungen zu jeder Ausstellung fällt irgend wann einmal die Frage: „Wie bist du eigentlich zur Kunst gekommen ?“ Und als ich diese Frage Susi Staub Ernst stellte, schoss es aus ihr heraus: „Ich hab die Schule nicht ausgehalten!“

Ein fantasiebegabter junger Mensch muss sich in einem Wirtschaftsgymnasium von Grenzen umgeben sehen, die ihn zurückhalten in einer Welt der Erklärbarkeiten, der Regulierung von Angebot und Nachfrage, in einer Welt auch, in der man sich damit abzufinden hat, dass der Austausch von Ideen eben nicht nach den Gesetzen des Marktes funktioniert. Die Sehnsucht also, alle diese Grenzen zu sprengen, die Barrieren hinter sich zu lassen, dieses Bedürfnis hat Susi Staub Ernst zur Kunst geführt. Ganz bei sich sein, mit sich selbst im Gleichgewicht, diese seltenen Erfahrungen schenkt (nur) die Kunst. Eine Kunst aber, die aus Widerstand geboren ist, eine Kunst, die das Gegenteil von uns verlangt, als das, was andere von uns verlangen, Eine Kunst auch, die es erlaubt, uns das was wir nicht haben und das, was wir haben müssten, mit trotziger Geste herbeizumalen. So malt sich Susi Staub etwa Blumen herbei, auch wenn die Tage trüb und die Welt um einen schlaff ist. Die Kunst ist tatsächlich immer das Andere. So ist die Welt der Kunst eine andere, als jene Welt, in die man im Wirtschaftsgymnasium eingeführt werden müsste. Wer Grenzen zu überwinden versucht, überwindet stets auch die eigene Begrenztheit. Also: Man macht beim Malen nicht nur die Erfahrung jener Dinge, die man malt, man macht auch die Erfahrung des Malens. Ich bin Farbe, könnte die Malerin also sagen, mit demselben Recht wie der Dichter, der sagte: „Ich bin Schrift“. Nun wissen wir aber, dass Susi Staub Ernst beides ist. Sie malt, sie schreibt.

Ja, sie malt sich Blumen herbei. Sie malt Blumen. Und wie sie sie malt! Jedenfalls gar nicht so, wie in dem mittlerweile schon industrialisierten Kunstsektor „Blumenmalerei“, in dem die Anmut, der Liebreiz der Blüten ungebrochen als fast biedere Qualität gefeiert zu werden hat. Ich habe vorhin von der trotzigen Geste gesprochen. Mit ihr wirft die Künstlerin ihre Blumen auf die Leinwand. Und irgendwie ist es, als müsse sie sie bändigen, wenn sich die Blumen dagegen wehren, abgebildet zu werden. Ihr Pinselstrich ist heftig. Das Gegenteil von dem, den man erwartet, wenn einem der Anblick von „Blumen“ bevorsteht. Mit solch energischen Zeichen holt die Malerin Bouquets, Sträusse, Blumen in ihre Welt. In ihre Welt des Widerstandes, die die Welt ihrer Kunst ist. Die Heftigkeit ihrer Zeichen, der malerischen Striche, vermittelt uns viel von der sinnlichen Erfahrung des Malens selbst, des Kunstmachens also, und von der Sinnlichkeit, die Schönheit - jene von Blumen eben! - in uns weckt. Aber: und dieses Aber ist wichtig: Die Blumenbilder heissen im Titel nicht „Blumen“ oder genauer Rosen, Enzian, Kamelien. Sie heissen „Im Tageszimmer“, sie heissen „Am späten Abend in China“, „Die graue Wand“, „Die Öffnung“ oder gar „Landschaft“. Dass es Blumen sind, das steht im Bild, nicht im Titel. Die Sprache des Titels erzeugt gewissermassen einen (filmischen) Rückzoom, in dem erst sie uns zeigt, in welchem Zusammenhang, in welcher Umgebung die Blumen zu sehen sind. So wird auch klar, dass hier eine Dichterin ist, die malt, eine Malerin die weiss, dass auch Worte Bilder erzeugen.

Und bevor ich sagen konnte, ein solcher Umgang mit dem Pinsel, wecke die Erinnerung an die Malweise der deutschen „Jungen Wilden“ der Achtzigerjahre, hatte Susi dieses Stichwort selber schon genannt. Sie hatten ja den Pinsel als die Verlängerung der Nervenstränge im menschlichen Körper bezeichnet. Und wenn dieser Nervenstrang zuckt, verwischt er die Grenze zwischen Maler und Bild, die Malerin ist eins mit dem, was sie tut, ist das geworden, was sie malt. Deutlicher als damit, kann ich mir die unruhestiftende Faszination von Susi Staub Ernsts Blumenbildern nicht erklären. Ihre Blumen wollen sich behaupten, in einer Welt, in der Natürlichkeit immer weniger zählt, Und Susis Heftigkeit sagt dezidiert und bestimmt: „Trotzdem Blumen!“ Ja: trotzdem wollen wir uns ihm ergeben, dem verwirrenden Farben und Formenspiel, dem Ineinander von Allem, was Blumen vor unseren Augen provozieren. Das Sprengen der Grenzen unserer Realität ist nicht etwa nur ein inhaltliches Anliegen, es hat Konsequenzen bis in die Bildgestalt hinein. Und dies ganz besonders dort, wo diese Realität eine ungeliebte ist. Und wieder steigt der Trotz hoch. Das Malen ist ein Fest, ein trotziges Fest, ein Fest aus Farben und Formen, zu dem die Malerin auch uns Betrachter einlädt. Und sie lehrt uns gleich auch augenzwinkernd: „Je mehr du schaust, umso mehr Blumen siehst du!“ Sie hat die Wesenhaftigkeit der Blume ins Bild gefasst. Die Blumen, die wir sehen wollen, zu sehen, das überlässt sie uns. Das heisst: sie rechnet sogar mit dem Trotz des Betrachters vor dem Bild. Heilsamer kann die Konfrontation überhaupt nicht sein. Da sind wir, die Betrachter, also stets gleichberechtigt neben der Malerin, als Erzeuger des Bildes.

Aber Susi Staub Ernst ist nicht „Blumenmalerin“. Ganze Zeitphasen hindurch bleibt sie einem Thema treu. Und wendet sich erst einem andern Thema zu, wenn sie das eine grundlegend erforscht hat. 1996-1998 hat sie Räume erforscht, indem sie Räume malte. Mir will das als die spannendste Phase in der Entwicklung von Susi Staub Ernst erscheinen. Es sind leere Räume, „reine“ Raume. Da gibt es kein sperriges Mobiliar, das die Raumstruktur, das die Proportionen verunklärt. Und doch sind es „reiche“ Räume, angereichert mit Geschichten, die sich in ihnen abgespielt haben…, abspielen könnten. Sie deutet sie an, diese Geschichten, wenn sie dem Bild eines Raumes den Titel gibt „Den Platinhimmel sehen“ oder einen Raum, der überall sein könnte, als „Grossstadt-Appartement“ definiert. Diese Räume gieren danach, mit unseren Geschichten angefüllt, angereichert zu werden. Nicht mit Möbelstücken. Die hat Susi Staub Ernst – eine blendend geistreiche Geste! – gesondert gemalt. Und zwar bildfüllend. Kommoden, Schränke, Stühle. Susi hat ihre Räume ausgeräumt, nur wir, die Betrachter, tragen die Dinge mit unserem Blick unwillentlich wieder in die Räume zurück. Und machen aus den „Räumen“, „Interieurs“. Solche hat Susi Staub Ernst auch gemalt. Und sie malte immer das Leben mit, das sich in den „Interieurs“ abspielte, auch wenn niemand drin ist. Die „reinen Räume“, die stillen Räume, die kalten Räume aber provozieren uns, das Leben selbst hineinzutragen.

(Jetzt wird eine Einschaltung nötig: Susi Staub Ernst erzählte mir, sie sehne sich danach, Porträts zu malen, Leute zu porträtieren. Nicht in erster Linie der Leute wegen. Sondern der Gespräche wegen, die sich beim Malen mit den Modellen ergeben. Sie freut sich darauf, die Gespräche, die Geschichten mit ins Bild hineinzumalen. Ins Bild, ins Gesicht der porträtierten Person.) Zurück, wir sind bei den Innenräumen. Und etwas noch: Es sind die Flächen, die die Malerin faszinieren, die Staffelungen von Wänden, die sich zu Räumen fügen, die hineinragende Diagonale einer halb offenen Tür. Da behandelt sie Linie, Fläche, Raum fast mit der Konsequenz und der Radikalität der konkreten Künstlergeneration. Raumgestaltung und Bildgestaltung werden eins, die Elemente des Raumes sind die Elemente des Bildes. Gerade deshalb erleben wir diese Raumbilder als so eminent zeitgenössisch. (Oder soll ich sagen: modern. Das Wort wirkt fad im Vergleich mit der Sache, um die es geht.)

Es geschieht selten, dass ich mich in völlig leeren Räumen wohl fühle, ausser dann, wenn Susi Staub Ernst sie gemalt hat. Sie spielt witzig mit Einblicken, Durchblicken, Ausblicken. Würde man aus dem Raum herausschauen, sähe man die Landschaften, die den Raum umgeben. Ihnen ist der dritte Stock dieser Ausstellung gewidmet. Verschiedentlich hat die Künstlerin den Aussenraum schon in den Innenraum hereingeholt, oder: sie setzt den Innenraum in der Landschaft fort. Denn Innen und aussen gehören zusammen. Vielleicht stimmt es, dass beides zusammen erst das Ganze ergibt. Wir finden jedenfalls viele Fingerzeige dafür in den Landschaften des dritten Stocks. Am deutlichsten dort, wo sie mit dem Gegensatz von Natürlichkeit und Künstlichkeit spielt und das Wuchern und Wachsen der Natur (dem ihr vitaler Pinselstrich die Reverenz erweist) mit den Würfelungen der Bauten durchsetzt. Und sie tut es so konsequent, dass das Ineinander, das Ineinanderwirken der beiden Dinge als bildnerisches Programm erkennbar bleibt. Keine Angst, sie macht daraus kein ökologisches Manifest, sondern – wie sie es als Künstlerin tun muss – ein ästhetisches! Und das wird uns nicht so schnell wieder loslassen.

Es fällt auch immer wieder die schlichte, aber provokative Frage „Wozu taugt eigentlich Kunst ? Was vermag sie zu tun ?“

Und da antwortet Susi Staub Ernst mit dem überraschenden Satz: „Kunst taugt, um auf Zehenspitzen über die Schwere der Realität zu gehen und ganz leicht zu sein“. Da schliesst sich unser Bogen. Diesen Satz kann nur sagen, wer das Sprengen der Gesetze früh als Auslöser für sein künstlerisches Tun erlebt hat. Und in diesem Fall auch: Der Gesetze der Physik.


© Peter K. Wehrli